Das Auto hat Humor. „Wischwasser nachfüllen!“ steht leuchtend auf dem Armaturenbrett. Fehlendes Wischwasser dürfte freilich das geringste Problem des Wagens sein. Der Mercedes in gefälschter Hochleistungsausstattung AMG fährt nicht mehr. Der vordere linke Reifen ist platt, die Seite eingedrückt, der hintere Kotflügel abgerissen. Ein kapitaler Schaden.
Der Wagen steht in der Halle eines Autoverwerters in Bochum. In der Nachbarschaft: Autohändler, Autoteilehändler, Autopfandhaus, Kfz-Sachverständiger, Abschleppdienst. Hier wird geschraubt und gehämmert, hier brummt die PS-Szene.
Gleich um die Ecke im Gewerbegebiet passierte der Verkehrsunfall. Der Mercedes im AMG-Look und ein Hyundai Tuscon sind zusammengestoßen. Der Hyundai steht auch beim Verwerter. Das rechte Hinterrad ist abgerissen. Ein Fall für die Spezialisten der Polizei. „Beide sagen: Der andere hat aufs Handy geguckt“, berichtet Polizeihauptkommissar Patrick König. Er gehört zum Verkehrsunfallaufnahmeteam, kurz: VU-Team, beim Polizeipräsidium Bochum.
Mit einem Laptop versucht er, die Daten des Mercedes aus dem Speicher des Airbag-Steuergeräts zu lesen. Informationen zur Geschwindigkeit, die Gaspedal- und Bremsstellung, die Daten des Assistenzsystems und der Einschlagwinkel des Lenkrads dienen dazu, den Unfallhergang exakt zu rekonstruieren. Ebenso können die Handys als Beweismittel sichergestellt bzw. beschlagnahmt werden, um weitere Hinweise über die Handynutzung zu bekommen.
Polizeihauptkommissar Tom Wenzel nimmt mit dem 3D-Scanner Maß. Dessen Informationen dienen dazu, den aktuellen Zustand des Wagens mit den ursprünglichen Abmessungen zu vergleichen und auch darüber wieder Anhaltspunkte etwa für Wucht und Winkel des Aufpralls zu bekommen. Hightech im Polizeialltag. „Was bei uns in den letzten Jahren an Technik angeschafft wurde, das ist wie eine Explosion“, sagt König.
Die Polizei steht „vor der besonderen Herausforderung einer zunehmenden Digitalisierung und Automatisierung des Straßenverkehrs“, heißt es im Innenministerium. Die Assistenzsysteme in modernen Autos führen dazu, dass das klassische Spurenbild, zum Beispiel Brems- und Blockierspuren, am Unfallort oftmals nicht mehr vorzufinden ist. Spezielle Technik und spezialisiertes Personal sind gefragt, um neben den klassischen auch die digitalen Spuren so zu sichern, dass sie auch vor Gericht verwendet werden können.
17 VU-Teams werden dazu in einem Zeitraum von drei Jahren bis 2023 in ganz Nordrhein-Westfalen eingeführt. „Was an einem Tatort die Spurensicherung ist, wird an einem Unfallort künftig landesweit das VU-Team sein“, sagt Innenminister Herbert Reul. Das kostet viel Geld, auch wenn einige Behörden bereits jetzt mit 3D-Laserscannern, Drohnen, Geräten zum Sichern digitaler Fahrzeugspuren und Hochstativen ausgestattet sind. Nach grober Berechnung beläuft sich der Wert der Ausstattung eines VU-Teams nebst VU-Aufnahme-Fahrzeug auf rund 330.000 Euro.
Auf bis zu 250 Einsätze pro Jahr kommt das Bochumer Team. Ein besonders schwerer Unfall ereignete sich kürzlich auf der Wasserstraße. Ein Fahrer verlor bei einer Geschwindigkeit von über 100 km/h (innerorts!) die Kontrolle über sein Fahrzeug und krachte in eine Reihe von geparkten Autos. Möglicherweise Resultat eines Rennens.
Oder das Beispiel Hagen: Zwölf Personen wurden bei einem aufsehenerregenden Unfall mit einem Reisebus, einem Linienbus, einem Lastwagen und mehreren Autos verletzt, vier davon schwer. Auch ein Fall für das VU-Team.
Wann die Teams zum Einsatz kommen, ist genau festgelegt: bei Unfällen mit Getöteten, mit Schwerverletzten, bei denen Lebensgefahr besteht und mit Personenschäden nach verbotenen Rennen, bei Unfallfluchten mit Personenschaden, sofern die Spurenlage besondere Technik erfordert, oder bei Verkehrsunfällen von besonderem öffentlichen Interesse.
Das erste VU-Team fing 2004/05 in Köln an. Bochum ist seit 2007 aktiv. Zu Wenzels 14-köpfiger Mannschaft dort gehören neben Polizistinnen und Polizisten auch drei Vermessungstechniker als Regierungsbeschäftigte, die ihre besondere Expertise einbringen. „Wir müssen weg vom Generalisten hin zum Spezialisten“, lautet die Strategie aus dem Innenministerium. Auch die Qualität der Verkehrsunfallaufnahme sei hoch, künftig wird nicht mehr jeder alles können.
Die Bochumer haben im Laufe der Jahre reichlich Erfahrung gesammelt. „Aber wir haben hier das Rad auch nicht neu erfunden“, betont Wenzel. Der Austausch mit benachbarten Behörden und mit der Wissenschaft hat deshalb für ihn eine große Bedeutung. „Wir lernen noch jeden Tag dazu.“